Prozesszeitvariation Verstehen
Wenn eine Fabrik nicht den vorgegebenen Durchsatz erreicht oder anderweitig "underperformt", liegt das Problem oft in der Variation der Prozesszeiten - und unzureichender Kapazität und Bestand, um diese auszugleichen. Wenn ein Vorgang mal länger dauert, ist die Arbeitsstation blockiert, gleichzeitig werden nachgelagerte Maschinen unterversorgt und damit sinkt die mögliche Auslastung. Ebenso kann eine kürzere Prozesszeit zu "Starvation" stromaufwärts und Blockierung stromabwärts führen. Wenn nicht ausreichend Kapazität und unfertiger Bestand vorhanden sind - beides kompensiert - kann das System möglicherweise die Produktionsziele nicht erreichen.
Es gibt nur wenige Dinge, die so häufig missverstanden werden wie Prozesszeitvariation. Viele Fabrikleiter, sogar Industrieingenieure, scheitern daran, die Auswirkung der Prozesszeitvariation zu berücksichtigen, mit ernsten Folgen für die Produktionsleistung.
Fallstudie zum Thema: Wie Anweisungen entgegen einem Wettlauf um "Bestzeiten" in einem Betrieb knapp 6 Millionen Dollar pro Jahr einsparen konnten: mehr lesen ...
Hier sind nur einige der größten Mythen:
Mythos 1: Wenn Prozesse mindestens so viel schneller sind wie sie länger dauern, heben sich die Effekte gegenseitig auf.
Falsch. Variation führt zu unvorhersehbaren Ankunftszeiten entlang der Produktionslinie, was die Auslastung von Maschinen reduziert und zu übermäßigem Bestand führt, d.h. zu einer Reduzierung der effektiven Kapazität.
Mythos 2: Automatisierte Prozesse tragen nicht zur Variation bei.
Beeinflussen Teilegeometrie oder Qualität die Prozesszeiten? Ist ein menschlicher Arbeiter immer noch für das Be- und Entladen erforderlich? Ist Materialqualität ein Faktor? Kann eine automatisierte Maschine ausfallen oder schlechte Leistung erbringen? Viele Faktoren tragen zur Variation der Prozesszeit bei.
Mythos 3: Wenn die Variation noch nicht bekannt ist, ist es besser, ohne sie zu modellieren. Ich kann sie später einfach als Skalierungsfaktor hinzufügen.
Falsch. Variation kann je nach Materialflussverhalten sehr signifikante Auswirkungen auf das Gesamtergebnis Ihres Systems haben.
Weniger folgenschwer, aber weil es sich so hartnäckig hält:
Mythos 4: Prozesszeiten folgen einer Normalverteilung.
Dieser Mythos wurde versehentlich in einigen Six-Sigma-Green-Belt-Büchern verbreitet. Normalverteilung bedeutet, dass die Glockenkurve symmetrisch ist. Genauso oft, wie ein Vorgang doppelt so lange oder länger dauert als die Durchschnittszeit, kommt es ein dementsprechend vor, dass die Vorgangszeit gleich null oder gar negativ ist. In einer Simulation ist diese Verteilung oft die erste Option, die negativen Prozesszeiten kann man vom Programm abschneiden lassen damit es keine Fehlermeldungen gibt. Bei näherer Betrachtung wird schnell klar, dass dies keine korrekte Darstellung der Realität sein kann.
Wie Prozesszeiten verteilt sind
Prozesszeiten folgen keiner normalen bzw. gaußschen Verteilung (wie dies oft bei Teilequalität der Fall ist), sondern einer asymmetrischen, exponentiellen Verteilung. Das macht Sinn: Gelegentlich kann ein Prozess, der normalerweise nur wenige Minuten dauert, eine Stunde oder sogar ein vielfaches der typischen Prozesszeit benötigen, zum Beispiel aufgrund eines Problems mit der Maschine. Im Gegensatz dazu gibt es nur begrenzte Möglichkeiten, einen Vorgang zu beschleunigen, und es gibt eine harte Grenze bei negativen Prozesszeiten, die (noch?) nicht erreicht werden können.
Wie sehr viele Vorgänge, die sich auf zeitliche Ereignisse beziehen, folgen Prozesse in der Fabrik fast immer einer Exponentialverteilung.
So sieht eine typische Prozesszeitverteilung aus:

Wir sehen hier eine typische Gamma-Verteilung, die aus Summen von exponentiell verteilten Werten besteht. Aus diesem Grund verwendet LineLab automatisch eine Gamma-Verteilung, um die Prozesszeitvariation zu erfassen.
Sie können den Mittelwert und die Standardabweichung von historischen Daten auch mit einfachen Tools wie Excel ermitteln, selbst wenn die Datenpunkte gamma-verteilt sind. Statistische Funktionen wie STABW (oder bei Spracheinstellung Englisch: STDEV) funktionieren genauso gut bei exponentiell oder gamma-verteilten Daten.
Wie bei allen Arten von Verteilungen ist die Standardabweichung das Produkt aus: Mittelwert * Variationskoeffizient CV. (Am Rande: Die sogenannte Varianz ist dann CV zum Quadrat.) Während die Standardabweichung also eine Zeitangabe ist, die meist sehr von der Durchschnittszeit abhängt, ist der Variationskoeffizient (Coefficient of Variation, CV) ein Prozentsatz, der breiter anwendbar ist.
Typische Variationskoeffizienten
Selbst wenn Ihre Abteilung über historische Produktionsdaten verfügt, müssen Sie möglicherweise trotzdem ihre Eingaben daraufhin überprüfen, ob neue Prozesse zu mehr Variation beitragen. Falls Sie keinen Zugang zu Prozessdaten haben, oder sich einfach einen Überblick verschaffen möchten, enthält die folgende Tabelle typische Werte für den Variationskoeffizienten.
Prozess / Branche | Variationskoeffizient (CV) | Quelle |
---|---|---|
Aushärtezeit von Verbundwerkstoffen | 1-22% | Mesogitis et al. 2016 |
Harzinjektion (Verbundwerkstoffe) | 15-25% | Tifkitsis & Skordos 2020 |
Produktion von Verbundwerkstoffen in der Luft- und Raumfahrt (AFP) | 10-30% | Nill 2018 |
Punktschweißen | 14-112% | Kock 2008 |
Lithografie | 90-130% | Kock 2008 |
Automobil: Karosseriewerkstatt | 10% | Fisher & Ittner 1999 |
Messingkolbenscheiben, mittelständisches Unternehmen | 50% | Millstein & Martinich 2014 |
Halbleiter: Burn-In | 50-90% | Terence 2001 |
Herstellung von Holztüren (manuell) | 9-23% | Chen 2019 |
Herstellung von Holztüren (halbautomatisch) | 2-20% | Chen 2019 |
Gesundheitswesen (ambulante Klinik) | 50-80% | Quiroz et al. 2018 |
Quellen hoher Prozesszeitvariation
- Produktvarianten mit unterschiedlicher Geometrie, Verarbeitungseigenschaften oder Komponentenanforderungen
- Prozesse mit Anpassungsbedarf im laufenden Betrieb, z.B. Laminierprozesse bei Verbundwerkstoffen
- Temporäre Sprints oder "Bestzeiten"-Ziele
- Unterschiedliche Energie- und Fähigkeitsniveaus bei den Arbeitnehmern
- Umweltbedingungen: Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Beleuchtung
Kosten der Variation: Einfaches Beispiel
In ihrem Buch "Manufacturing Systems Modeling and Analysis" leiten G. Curry und R. Feldman analytisch ab, wie sich eine Reduzierung der Prozesszeitvariation auf eine Reduzierung der Auslastung (und somit auf eine Erhöhung der verfügbaren Kapazität eines Produktionssystems) auswirkt.
Wir können das Beispiel in LineLab replizieren. Der analytische Ansatz ist identisch (und allgemein für jede Art von Verteilungskurve anwendbar).
In dem Beispiel hat ein Prozess mit einer Zeit von 2 Stunden einen Variationskoeffizienten von 1 (d.h. 100%), und dies gilt auch für die Ankunftsrate in der Zelle. Die Maschinenauslastung beträgt 80%. (Wir geben also Angaben für die Auslastung und die Anzahl der Arbeitsstationen ein - Variablen, die LineLab sonst für uns optimiert hätte.)

Das Beispiel ergibt eine Wartezeit von 480 Minuten bzw. 8 Stunden.

Nun reduzieren wir die Prozesszeitvariation um den Unterschied zu zeigen. Nehmen wir an, der Variationskoeffizient wird um 30% reduziert.

Sobald wir das Modell mit den neuen Angaben lösen, sehen wir, dass die Wartezeit um 51% von 480 (oder 8 Stunden) auf 235,2 Minuten (3,92 Stunden) sinkt:

Dies ist natürlich ein sehr einfaches Beispiel. In den meisten Produktionssystemen ist unfertiger Bestand sehr kostspielig: Es wären mehr Teileträger und mehr Platz erforderlich, um sie unterzubringen. Und wir wissen vom Little's Law, dass es einen Trade-off zwischen Durchlaufzeit, WIP-Bestand und Durchsatz gibt.
Um zu demonstrieren, was passiert, wenn der Bestand fixiert wird, setzen wir den unfertigen Bestand der Linie auf den Wert, den es bei einem CV von 70% hat.

Jetzt können wir eine Analyse durchführen, um zu sehen, wie sich der CV auf den Durchsatz des Systems auswirkt:

In dem Diagramm sehen wir: Wenn die Variation um die Hälfte zunimmt, so nimmt der mögliche Durchsatz um knapp 40% ab. Aber die Veränderung ist nicht linear.
Wir sehen auch, bei einem Variationskoeffizient unterhalb des Werts, bei dem wir den Bestand festgelegt haben (auf den von LineLab berechneten Wert, der den Durchsatz maximiert), ist der Bestand ausreichend, die Anlagen somit hinreichend ausgelastet, und der Durchsatz maximal. Aber bei höherer Variation führt die Begrenzung des Bestands dazu, dass die Auslastung der Anlagen nicht mehr zu gewährleisten ist. Und damit sinkt auch der mögliche Durchsatz. Denn: Bei höherer Variation muss entweder mehr Kapazität oder mehr Bestand geschaffen werden, ansonsten sinkt der Durchsatz. Ein anschauliches Beispiel dafür, dass zusätzliche Variation zu Kosten des Durchsatzes geht, wenn sie nicht durch zusätzlichen Puffer kompensiert wird.
Die Variation der Prozesszeit hat also sehr reale Kosten. Es handelt sich um einen sehr nichtlinearen Effekt und die Beziehungen sind komplex, was oft zu Missverständnissen führt. Aber mit den richtigen Tools können Sie ein besseres Verständnis dafür entwickeln und die oft erheblichen Auswirkungen der Prozesszeitvariation auf den Produktionsbetrieb verstehen.